Diskussionspapier „Zugang zur Regelversorgung digitaler Versorgungsangebote“

14.02.2019

Bedeutung digitaler Versorgungsangebote nimmt zu – politische Weichenstellungen stehen noch aus

Digitale Versorgungsangebote finden schon heute Anwendung, um Therapien und Versorgungsprozesse zum Nutzen von Patienten und Anwendern zu verbessern.

Neben den telemedizinischen Einsatzmöglichkeiten, etwa beim therapiebegleitenden Telemonitoring, bietet die Digitalisierung den Patienten und Patientinnen besonders bei chronischen Erkrankungen und seltenen Erkrankungen zahlreiche Möglichkeiten zum Selbstmanagement. So können digitale Versorgungsangebote den Patienten im Alltag unterstützen, indem sie Daten zur Ferndiagnose oder zum Monitoring an einen Arzt übertragen, welcher den Gesundheitszustand dauerhaft überwacht und den Patienten bei Bedarf einbestellt. Digitale Versorgungsangebote helfen dem Patienten, Therapieerfolge zu steigern oder die eigene Erkrankung selbstbestimmt zu managen.

Digitale Versorgungsangebote können Behandlungsprozesse effizienter gestalten und das Ergebnis der Gesundheitsversorgung verbessern. Somit werden Wirtschaftlichkeitspotentiale gehoben. Dennoch  finden digitale Versorgungsangebote derzeit nur schwer Zugang in die Regelversorgung.

I ) Herausforderungen

Unklare Zuordnung zu bzw. unzureichende Abbildung in Vergütungssystemen

Die Zuordnung von digitalen Versorgungsangeboten in bestehende Zugangswege ist oft unklar, da es sich bei diesen häufig um akteurs- bzw. sektorenübergreifende Angebote handelt, welche den bestehenden Vergütungssystemen nicht (eindeutig) zugeordnet werden können. Derzeit existieren keine rechtlichen Vorgaben zur Ausgestaltung digitaler und übergreifender Versorgungsangebote.

Unzureichende Methodik der Nutzenbewertung für digitale Versorgungsangebote

Der bestehende gesetzliche Rahmen sowie die entsprechende Methodik der Nutzenbewertung berücksichtigen die Besonderheiten digitaler Versorgungsangebote nicht. So ist der heute verwendete Methodenbegriff (= Kombination von Produkt, Indikation und Anwendung) ungeeignet, um digitale Versorgungsangebote umfassend bewerten zu können. Angesichts rapider Weiterentwicklungen digitaler Versorgungsangebote gestaltet sich unter anderem die Definition wesentlicher Veränderungen, die ggf. eine neue Methode begründen, als schwierig.

Auch die regelhaft geforderten randomisierten kontrollierten Studien (RCT) sind oft nicht durchführbar, da zum Beispiel eine „Verblindung“ von Patienten nicht möglich ist. Hinzu kommt, dass die derzeit gesetzlich vorgegebenen Nutzenkategorien Morbidität, Mortalität und gesundheitsbezogene Lebensqualität nicht ausreichend sind, um den gesamten Nutzen, den digitale Lösungen stiften können, abzubilden. So wird der prozessuale Nutzen - wie etwa der verminderte Zeitaufwand durch die Reduktion unnötiger Patienten-Arzt-Kontakte oder das verbesserte Selbstmanagement durch den Patienten - nicht in Nutzenbewertungen berücksichtigt. Angesichts der in der Regel mehrere Jahre andauernden Evaluationen stellen auch die kurzen Produktlebens- und Innovationszyklen digitaler Versorgungsangebote eine Herausforderung für die derzeitige Methodik der Nutzenbewertung dar.

Fehlende Überführung erfolgreicher digitaler Versorgungsangebote aus der selektiven Versorgung in die Regelversorgung

Angesichts unklarer und ungeeigneter Regelungen für den Zugang digitaler Versorgungsangebote in die Regelversorgung gehen Kostenträger dazu über, ihren Versicherten selektiv Zugang zu diesen Angeboten zu ermöglichen, etwa als Satzungsleistung (§ 11 Absatz 6 SGB V) oder über den Abschluss von Selektivverträgen (§ 140a SGB V).

Problematisch ist, dass die in Selektivverträgen geregelten Versorgungsangebote, die sich bewährt haben und dementsprechend begleitende Evaluationen vorweisen, trotzdem nicht in die Regelversorgung gelangen. Um allen Versicherten den gleichen Zugang zu digitalen Innovationen und Versorgungsangeboten zu ermöglichen, bedarf es hierzu klarer Regelungen.

Fehlende Anreize für die Einführung von digitalen Versorgungsangeboten

In der aktuellen Erstattungssystematik der gesetzlichen Krankenversicherung fehlen ausreichende Anreize für die Nutzung von digitalen Versorgungsangeboten durch Patienten, Leistungserbringer und Krankenkassen. Durch fehlende Anschubfinanzierungen unterbleiben Investitionen in notwendige Infrastrukturen für digitale Versorgungsangebote (z. B. für Telemedizin), wodurch die Potentiale von diesen Bereichen nicht ausreichend bzw. nur in Inselprojekten genutzt werden. Auch eine fehlende Anschlussförderung zur Evaluation der eingeführten digitalen Versorgungsangebote, welche die Überführung der Leistungen in die Regelversorgung unterstützen könnte, ist zu bemängeln. Gerade für kleine und mittelständische Unternehmen sowie Health-Startups stellt dies eine Markteintrittsbarriere dar.

Ergänzende Vorschriften in der ärztlichen Berufsordnung

Um die großen Chancen einer digitalisierten Gesundheitsversorgung zu nutzen, wäre zudem eine berufsethische Diskussion aller Gesundheitsberufe zielführend. Nur wenn die neuen Versorgungsbedingungen und –anforderungen mit allen Stakeholdern erörtert werden, können digitalisierte Versorgungsangebote zum Nutzen der Patienten verantwortungsvoll umgesetzt werden. Beispielsweise könnte die Einzelfallbeschränkung in § 7 Abs. 4 MBO-Ä (Musterberufsordnung der Ärzte) aufgehoben werden. Weiterhin beeinträchtigen auch Unsicherheiten bei Datenschutzanforderungen, zum Beispiel die fehlende bundeseinheitliche Anwendung der Datenschutzregelungen, die Nutzung von digitalen Versorgungsangeboten erheblich. Diese Herausforderungen bedingen Unsicherheiten bei den Herstellern mit der Konsequenz, dass Innovationen nicht in den deutschen Markt eingeführt werden oder nicht für die Regelversorgung verfügbar sind. Dies stellt nicht nur ein Risiko für den Wirtschafts- und Innovationsstandort Deutschland dar, sondern auch für die Versorgung in unserem solidarischen Gesundheitssystem.

  1. II) Diskussionsvorschläge

Um die Potentiale der Digitalisierung in der Gesundheitsversorgung zu heben und allen Versicherten den gleichen Zugang zu den digitalen Versorgungslösungen zu ermöglichen, sind insbesondere folgende Voraussetzungen zu erfüllen:

  • Entwicklung adäquater Bewertungsverfahren für digitale Versorgungsangebote: Hier sollten die Besonderheiten beim Studiendesign, neue Nutzenkategorien und kurze Innovations- und Produktlebenszyklen berücksichtigt werden.
  • Etablierung von Beratungsangeboten: Anbieter digitaler Versorgungsangebote verbindlich über Zugangsoptionen in das Erstattungssystem informieren.
  • Einführung einer eigenen integralen Vergütungssystematik: Digitale Versorgungsangebote sollten auch sektorenübergreifend sachgerecht vergütet werden.
  • Systematische und regelhafte Evaluation selektivvertraglich angebotener digitaler Versorgungsangebote: Bewährte digitale Versorgungsangebote aus Selektivverträgen sollten mittels einer spezifisch dafür modifizierten Nutzenbewertung evaluiert werden, mit dem Ziel der Überführung in die Regelversorgung. Bei positiver Bewertung sind diese Versorgungsangebote allen Versicherten zur Verfügung zu stellen.
  • Anpassung der rechtlichen Vorschriften für die Nutzung digitaler Versorgungsangebote: Neue Versorgungsrealitäten erfordern eine Anpassung des bestehenden Rechtsrahmen, z.B. klare Regelungen für die Fernbehandlung im Rahmen von Telemedizin sowie bundesweit einheitliche Regelungen des Datenschutzes.
  • Branchen- und sektorenübergreifenden ehealth-Dialog führen: Gemeinsame Erarbeitung von Vorschlägen zur Weiterentwicklung der Rahmenbedingungen und Verbesserung der Versorgung der Patienten durch die Integration von digitalen Versorgungsangeboten. Hierzu wird ein ressortübergreifender Dialog unter zentraler politischer Moderation vorgeschlagen.

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