Gesundheitsdaten retten Leben: geregelten Zugang und Nutzung für private Forschung ermöglichen
18.05.2020
Eine zukunftsorientierte Datennutzung und Datenanalyse ermöglichen das schnelle Zusammenführen und Auswerten von Gesundheitsdaten. Datenbasierte Anwendungen können z.B. durch den Einsatz von Big-Data-Analysen und KI-Methoden wesentlich dazu beitragen, Diagnostik und Therapien zu verbessern. Bei der Bekämpfung von chronischen Krankheiten, wie Diabetes, Herzinsuffizienz, Krebs oder seltene Erkrankungen, können neue Behandlungen patientenorientierter entwickelt werden. Datenbasierte Anwendungen können die Lebensqualität steigern, die Versorgung effizienter gestalten und Leben retten. Angesichts der aktuellen COVID-19-Pandemie hat auch der Sachverständigenrat der Digitalisierung der Prozesse im deutschen Gesundheitswesen eine Schlüsselrolle für den Schutz von Leben und Gesundheit zugesprochen.1
Um die Möglichkeiten der Digitalisierung für die Gesundheitsversorgung in Deutschland umfassend zu nutzen, braucht es einheitliche Regeln für den transparenten Zugang zu Versorgungs- und Forschungsdaten. Das gilt nicht nur für forschende Institute, sondern auch für die forschende Gesundheitswirtschaft. Denn die private Forschung ist die treibende Kraft bei der Übersetzung von Grundlagenforschung in nutzenstiftende Diagnostik, Gesundheitsanwendungen und innovative Therapien für Patienten.
Datenfreigabe schafft Mehrwert für die Forschung
Die Verbände der eHealth-Allianz begrüßen, dass im Gesetzentwurf zum Patientendaten-Schutz-Gesetz (PDSG) erstmalig die Rechtsgrundlage für eine freiwillige Datenfreigabe über die elektronische Patientenakte (ePA) geschaffen wurde. Bereits heute wäre eine überwiegende Mehrheit der Patienten bereit, mit ihren Daten die Erforschung und Heilung ihrer Erkrankungen aktiv zu unterstützen2. Die Erweiterung der Datenfreigabe im Gesetzentwurf auf alle Dokumente und Daten der ePA bietet der Forschung deshalb einen echten Mehrwert. Patienten können – über Daten ohne Personenbezug hinaus – ihre klinischen und strukturierten Daten entweder einzeln oder gesammelt dem Forschungsdatenzentrum nach § 303d SGB V zur Verfügung stellen. Besonders die Forschung zu chronischen oder seltenen Erkrankungen profitiert hiervon.
Antragsberechtigung der privaten Forschung beim Forschungsdatenzentrum ermöglichen
Dennoch bleibt das Potenzial privater Forschung ungenutzt. Auch nach dem Gesetzentwurf zum PDSG bleibt die Antragsberechtigung beim Forschungsdatenzentrum ausschließlich auf die Selbstverwaltung und der öffentlichen Forschung begrenzt. Dies trifft ebenfalls für die Daten der ePA zu. Der Ausschluss privater Forschung von der Antragsberechtigung beim Forschungsdatenzentrum ist nicht sachgerecht und zukunftsweisend. Wir stehen bei der Digitalisierung am Anfang einer dynamischen Entwicklung, deren Möglichkeiten wir heute nicht voll abschätzen können. Ohne eine Aufnahme der Antragsberechtigung privater Forschung beim Forschungsdatenzentrum in den parlamentarischen Beratungen wird ein grundlegendes strukturelles Problem für datenbasierte Gesundheitsanwendungen und die industrielle Gesundheitswirtschaft bereits zu Beginn dieser Entwicklungen fortgeführt und manifestiert.
Deutschland droht international den Anschluss zu verlieren
Die forschende Industrie ist ein Wachstumstreiber in der Gesundheitswirtschaft am Innovationsstandort Deutschland3. Circa 75 Prozent der Forschungsvorhaben werden entweder durch die Industrie getragen oder finanziert. Diese Innovationsfähigkeit und das Innovationspotenzial sind gefährdet, wenn in Deutschland keine Entwicklung von digitalen Innovationen auf Basis eigener Datenbestände möglich ist. Der Zugang zu validierten Daten ist für die Forschung und Entwicklung von innovativen Lösungen eine entscheidende Voraussetzung und ein eigenständiger Standortfaktor im internationalen Wettbewerb. Andere Länder haben das erkannt. Schweden, das Vereinigte Königreich oder Australien gehen beim Datenzugang für private Forschung progressivere Wege und sind für forschungsorientierte Unternehmen attraktiver. In Finnland haben bereits seit Anfang 2020 neben Forschungsinstitutionen auch forschende Industrieunternehmen per One-Stop-Shop-Zugriff auf Gesundheits- und Sozialdaten4.
Notwendig ist aus Sicht der Verbände der eHealth-Allianz die Ergänzung eines eigenständigen Antragsrechts der privaten Forschung beim Forschungsdatenzentrum und damit die Ergänzung als berechtigte Institution nach § 303e Absatz 1 SGB V. Das steht im Einklang mit den Empfehlungen der Datenethikkommission5, die eine Verbesserung des kontrollierten Zugangs zu personenbezogenen Daten fordert. Es wäre ein wichtiges Signal und Voraussetzung dafür, dass die Entwicklung von qualitativ hochwertigen, innovativen Gesundheitslösungen am Standort Deutschland ermöglicht und unterstützt wird. Das Antragsrecht wäre ein wichtiger Beitrag für die Wettbewerbs- und Zukunftsfähigkeit des Forschungsstandortes Deutschland.
Der Zugang zu und die Nutzung von heterogenen Gesundheitsdaten für die industrielle Gesundheitswirtschaft ermöglichen eine effizientere, sicherere und patientenorientiertere Versorgung. Ob in der Entwicklung von KI-Anwendung, der digitalen Diagnostik, wirksameren Krebsmedikamenten oder vernetzen Implantaten, der Einsatz von Forschungsdaten ist vielfältig:
1. KI basierte Krebsfrüherkennung mithilfe von Gesundheitsdaten
Die Möglichkeit der Datenfreigabe ist besonders dort von hoher Relevanz für die Entwicklung von KI-Produkten, wo multidimensionale Daten betroffen sind, etwa die Verknüpfung von Labor-, Bildgebungs- und Befundparametern. Die Entwicklung von Algorithmen zur Erkennung verdächtiger Lungenrundherde fußt auf der Verfügbarkeit anonymer, computertomographischer Bildserien mit entsprechenden Annotationen. Die Anzahl der Datensätze bzw. Patientenfälle, die erforderlich ist, um eine hohe Genauigkeit und Robustheit zu erreichen, liegt abhängig von der Fragestellung typischerweise im Bereich von 1.000 bis 100.000. Diese Daten müssen von unterschiedlichen Institutionen, Patientenkohorten und bildgebenden Geräten stammen. Einen solchen Algorithmus effizient zu entwickeln, setzt die Möglichkeit voraus, retrospektive Daten (d.h. Daten aus bereits bestehenden Datenbanken) in anonymisierter Form nutzen zu können.
2. Individuelle Prognose und Behandlungen von Begleiterkrankungen durch Prädiktorenmodelle
Die Interaktion zwischen Herstellern und Anbietern von Healthcare-IT-Lösungen und der Wissenschaft lassen neue Versorgungskonzepte und –pfade entstehen, die letztendlich dem Patienten und dem gesamten Gesundheitssystem nutzen. Telemedizinisch unterstützte schlaf- und beatmungsmedizinische Therapielösungen sind bislang reduziert auf die jeweils krankheitsbezogenen Therapiedaten. Durch eine Ausweitung des Datenpools, z.B. auf Vital- und weitere Daten von Patienten können Risikofaktoren für bestimmte Erkrankungen frühzeitig identifiziert werden. Mithilfe dieser Gesundheitsdaten können auf den Patienten abgestimmte Prädiktorenmodelle aufgebaut und eine individuelle Vorhersage von Erkrankungsrisiken prognostiziert werden. Komorbiditäten, also Begleiterkrankungen können so früher erkannt und besser behandelt werden.
3. Medikamente virtuell in klinischen Studien testen
Klinische Studien sind aufwendig, langwierig und kostenintensiv. Deutliche Verbesserungen können z. B. sogenannte virtuelle Kontrollarme bringen. In vielen klinischen Prüfungen bekommt eine Gruppe von Patienten zusätzlich zur Standardtherapie, die zu prüfende neue Therapie. Die Kontrollgruppe bekommt anstelle der neuen Therapie ein Scheinmedikament (Placebo). Mit diesem Vergleich lässt sich die gegebenenfalls bessere Wirksamkeit des neuen Arzneimittels belegen. Die Kontrollgruppe könnte mit bereits vorhandenen Patientendaten – wenn vorhanden – virtuell simuliert werden. Das ermöglicht kleinere Studien, bei denen Patienten nur die neue und womöglich bessere Therapie erhalten. Dringend benötigte Medikamente können schneller auf den Markt gebracht werden und würden den Patienten früher zur Verfügung stehen. Simulierte Kontrollgruppen benötigen allerdings eine Reihe von umfassenden, strukturierten Gesundheitsdaten, weshalb der Einsatz derzeit noch begrenzt ist. Der Zugang zu strukturierten Gesundheitsdaten, wie sie z. B. in der Medizininformatik-Initiative vorgesehen ist, muss auch der privaten Forschung offenstehen.
4. Versorgungsforschung: Die Gesundheit der Menschen verbessern
Aufbereitete, pseudonymisierte bzw. anonymisierte Gesundheitsdaten geben eine Übersicht über das Geschlecht, das Alter, die Diagnose und die Therapie. Sie lassen zudem Rückschlüsse auf das Versorgungsgeschehen in bestimmten Krankheitsfeldern und die Anwendung von Therapien in der Praxis zu. Dadurch sind tiefergehende Analysen zur Verbesserung der Versorgungsqualität und eine zielführende Weiterentwicklung von Versorgungsprogrammen (z. B. DMP-Programme Diabetes) möglich. Die Analyse und das Zusammenführen von Erkenntnissen einzelner Datensätze kann somit zu einer besseren Gesundheitsversorgung insgesamt oder bestimmte Patientengruppen führen.
5. Mutationsdatenbanken: Zusammenhänge früher erkennen & personalisierte Therapien ermöglichen
Um die Charakteristik einer Erkrankung eindeutiger beschreiben und die Medikamentendosierung an den aktuellen Krankheitsverlauf besser anpassen zu können, gewinnt die regelmäßige Überwachung des Krankheitsverlaufs zunehmend an Bedeutung. Dies ist nur möglich, wenn individuelle Patientendaten in einheitlicher, anonymisierter oder pseudonymisierter Form dokumentiert, aufbereitet und verglichen werden, wie es z. B. in Mutationsdatenbanken der Fall ist. Basierend auf realen Patientenfällen, werden genotypische, phänotypische und epidemiologische Daten miteinander verknüpft. So wird eine gezielte Bewertung möglich, ob bislang unbekannte Mutationen krankheitsverursachend sind, ob bekannte Mutationen aufgrund klinischer Evidenz neu bewertet werden müssen oder ob die Medikamentendosierungsanpassungen positiven Einfluss auf den Krankheitsverlauf haben. Dies ermöglicht Patienten eine frühzeitige und personalisierte Therapie, die zudem das Gesundheitssystem finanziell entlastet.
6. Gesundheitsdaten für smarte und sichere Medizintechnik
Bei einer gezielten Weiterentwicklung von Endoprothesen wie Hüft- oder Kniegelenkte benötigen Hersteller registerbasierte Daten zu Prozeduren oder Produkten. Anonymisierte Patientendaten aus der Routineversorgung, wie sie z.B. in der ePA gespeichert werden, können zu einer weiteren Optimierung der Prothesen erheblich beitragen. Hersteller benötigen hierfür nicht nur Daten, die im Zusammenhang mit einem „Behandlungsereignis“ stehen, sondern auch Daten zur Prä- und Post-Behandlung. Diese können die Hersteller bei einer Einschätzung der Wirksamkeit eines Verfahrens oder Nutzenbewertung von u.a. Robotik-assistierten OP-Verfahren, der Verbesserung und Qualitätskontrolle der Behandlungsmethode im Sinne des Patienten sowie der Marktüberwachung von bereits eingeführten Medizinprodukten unterstützen.
1Sachverständigenrat Gesundheit. „Digitalisierung gegen Corona Daten teilen - besser heilen.“ Gastbeitrag, Spiegel Online. 21.04.2020 www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/corona-daten-teilen-besser-heilen-sachverstaendigenrat-gesundheit-a-ed21193d-84cf-4765-a085-cca5de840078
2Technologie- und Methodenplattform für die vernetzte medizinische Forschung e.V. „Datenspende“ für die medizinische Forschung: Ergebnisse einer aktuellen Umfrage. 27.08.2019. www.tmf-ev.de/DesktopModules/Bring2mind/DMX/Download.aspx?Method=attachment&Command=Core_Download&EntryId=32081&PortalId=0
3Bundesministerium für Wirtschaft und Energie. „Gesundheitswirtschaft Fakten & Zahlen Länderergebnisse der Gesundheitswirtschaftlichen Gesamtrechnung.“ 08.05.2019 www.bmwi.de/Redaktion/DE/Publikationen/Wirtschaft/gesundheitswirtschaft-fakten-zahlen-2018-laenderergebnisse.html
4Ministry of Social Affairs and Healthcare, Finland. Secondary use of health and social data. “Act on the Secondary Use of Health and Social Data.” Ministry of Social Affairs and Healthcare. Finland, 2019. https://stm.fi/en/secondary-use-of-health-and-social-data
5Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat & Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz. „Gutachten der Datenethikkommission.“ Berlin, 2019. www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/publikationen/themen/it-digitalpolitik/gutachten-datenethikkommission.pdf?__blob=publicationFile&v=6