Kompass Digitale Gesundheit: eHealth‐Allianz konkretisiert Forderungen nach eHealth‐Zielbild

23.06.2021

Um die Digitalisierung der Gesundheitsversorgung in Deutschland erfolgreich zu gestalten, fordern Biotechnologie,  Gesundheits‐IT, Medizintechnik und pharmazeutische Industrie als zentrale Eckpfeiler der industriellen Gesundheitswirtschaft die Fortsetzung des Dialogs zu einem Akteurs‐übergreifenden eHealth‐Zielbild sowie die regelmäßige Messung des Digitalisierungsfortschritts.

Der Anfang ist getan: Doch ohne Strategie bleibt das Ziel in weiter Ferne
Seit drei Jahren ist Bewegung beim Thema eHealth: Mit dem Digitale‐Versorgung‐Gesetz (DVG) (2019), dem Patientendaten‐Schutz‐Gesetz (PDSG), Krankenhauszukunftsgesetz (KHZG) (beide 2020) sowie dem Digitale‐Versorgung‐und‐Pflege‐Modernisierung‐Gesetz (DVPMG) (2021) wurden wichtige Grundsteine für die Digitalisierung der deutschen Gesundheitsversorgung gelegt. Der jahrelange Stillstand in lang vernachlässigten Themenbereichen ist beendet und erste Schritte zur Verbesserung getan. Neben dem politischen Willen zur Veränderung ist dies nicht zuletzt Ergebnis des hohen Innovationsdrucks im Gesundheitswesen und des Engagements der industriellen Gesundheitswirtschaft.

Kurzum: Die Digitalisierung des Gesundheitswesens ist im Jahre 2021 endlich auf dem richtigen Weg. Das Ziel dieses Weges, ein nachhaltiges, modernes und vernetztes Gesundheitswesen, ist jedoch noch weit entfernt.

So bleibt fraglich, ob Maßnahmen und Leitlinien den Akteuren erfolgreich den Weg aufzeigen und auf die Erreichung des Ziels zusteuern. Denn: Den gesetzlichen Regelungen fehlt weiterhin der Kontext und trotz hoher Dynamik teilweise noch eine konsequente Anwendung. Die Akteure des Gesundheitswesens brauchen nun eine klare Ausrichtung für die weitere Reise, indem die zahlreichen Einzelmaßnahmen zu einer umfassenden Digitalisierungsstrategie für die Gesundheitsbranche zusammengeführt und eindeutig beschrieben werden.

Die eHealth‐Allianz möchte der Politik einen erneuten Handlungsimpuls geben und mit diesem Papier in fünf Handlungsfeldern erste Punkte auf dem Weg zu einer gemeinsamen eHealth‐Strategie formulieren und für eine Zusammenarbeit werben.

1. Digitales Gesundheitswesen im Sinne aller Patient:innen und Versicherten
Unser erklärtes Ziel ist es, eine integrierte und sektorenübergreifende Gesundheitsversorgung ausgerichtet am größtmöglichen Nutzen für Patient:innen und Versicherte zu ermöglichen. Digitalisierung ist hierbei kein Selbstzweck, sondern eine Chance, um veraltete Strukturen aufzubrechen und mit Hilfe digitaler Technologien die Qualität der Versorgung grundlegend zu verbessern. Digitalisierung bedeutet sowohl kontinuierliche Transformation, als auch Innovation. Die industrielle Gesundheitswirtschaft ist eine der maßgeblich treibenden Kräfte. Wir übersetzen die Grundlagenforschung nachhaltig und belastbar in nutzenstiftende Diagnostik, weitere digitale Gesundheitsanwendungen und sinnvolle innovative Lösungen von der Prävention bis zu Therapien für die Versicherten und Patient:innen. Damit das gelingt, ist der geregelte Zugang zu qualitativ hochwertigen und strukturiert vorliegenden Forschungs- und Versorgungsdaten in Deutschland notwendige Voraussetzung. Es braucht aber nicht nur die geeignete Datengrundlage, sondern einen regelmäßigen Austausch aller beteiligten Akteure, um “Digital‐Silos” zu vermeiden und eine integrierte und sektorenübergreifende Versorgung auf‐ und weiter auszubauen.

Ein weiterer wesentlicher Bestandteil für ein erfolgreiches digitales Gesundheitswesen sind die Kompetenzen seiner Anwendergruppen. Nur wo Mehrwerte der Digitalisierung durch seine Akteure nachvollziehbar und verständlich sind, können sie auch mit breiter Akzeptanz umgesetzt und in die Versorgung integriert werden. Dazu müssen Nutzer, Anwender und Entscheider durch die Förderung digitaler Kompetenzen in die Lage versetzt werden, die Mehrwerte und Risiken bestehender und zukünftiger Leistungsangebote realistisch einzuschätzen und informierte Entscheidungen bezüglich ihrer Nutzung zu treffen. Ein eHealth‐Zielbild muss daher neben flächendeckender Informationsarbeit auch Weiterbildungsangebote zur Stärkung von “Digital Literacy” umfassen.

2. Integrierte und sektorenübergreifende Gesundheitsversorgung steht und fällt mit der Digitalisierung
Um den Herausforderungen des demographischen Wandels und der Zunahme chronischer Erkrankungen zu begegnen, sowie den immer stärkeren digitalen Kompetenzen der Patient:innen Rechnung zu tragen, müssen Prozesse der Gesundheitsversorgung stärker integriert und sektorenübergreifend stattfinden. Ob zuhause (Homecare / Telemonitoring), in der ambulanten ärztlichen Behandlung oder während des stationären Aufenthalts in Krankenhaus oder Pflegeheim: Wir brauchen eine vernetzte Gesundheitsdateninfrastruktur über Sektorengrenzen hinweg, auf die alle beteiligten Akteure in der Patient:innenversorgung gleichermaßen und gleichberechtigt zugreifen können.

Das Prinzip der integrierten, vernetzten digitalen Versorgung muss zur Regel werden, damit Patient:innen immer und überall bestmöglich versorgt werden. Damit dieses Potenzial der integrierten Versorgung sektorübergreifend auch voll ausgeschöpft werden kann, bedarf es aber der konsequenten Nutzung digitaler Werkzeuge. Zunehmend werden die Versorgungsstrukturen im Gesundheitswesen, insbesondere die Schnittstellen ambulant – stationär ̶ aber auch “zuhause” ̶ durch die Digitalisierung gestaltet. Damit wir diese Entwicklung zukünftig besser nutzen und steuern, brauchen wir eine stärker koordinierte Zusammenarbeit der Kooperationspartner im Gesundheitswesen. Sichergestellt werden muss
die integrierte digitale Versorgung durch eine zukunftsfähige und dynamische Infrastruktur. Dazu sollte in einem eHealth Zielbild auch eine zielgerichtete Roadmap zur regelmäßigen Weiterentwicklung der Telematikinfrastruktur eingebettet werden. Um diese Roadmap umsetzbar und erfolgversprechend zu gestalten, muss die Einbeziehung der wesentlichen Interessensgruppen genauso selbstverständlich sein wie die realitätsnahe Festlegung entsprechender Zyklen und Fristen.

3. Zukunftsorientierter Forschungs‐ und Wirtschaftsstandort
Die industrielle Gesundheitswirtschaft ist für den Standort Deutschland seit vielen Jahrzehnten eine Schlüsselindustrie und soll dies auch in Zukunft bleiben. Dies zeigt sich besonders jetzt in der Corona‐Pandemie. Die industrielle Gesundheitswirtschaft ist gleichzeitig Wachstumstreiber und Jobmotor und damit erfolgskritisch für den Standort Deutschland.

In der Gesundheitswirtschaft – einer der größten deutschen Wirtschaftsbranchen – nimmt die Digitalisierung einen immer größeren Raum ein. Zum Beispiel sind anonymisierte oder pseudonymisierte Gesundheitsdaten ein zunehmend wichtiger Baustein bei der Entwicklung innovativer Arzneimittel und Medizinprodukte. Unsere Branche ist gut vorbereitet und möchte ihre Möglichkeiten auch anbieten können. Eine Hürde ist allerdings das Tempo der Digitalisierung. Neben der Verfügbarkeit von Gesundheitsdaten zu Forschungszwecken stellt der Zugang innovativer Lösungen in den Gesundheitsmarkt eine weitere zentrale Hürde dar. Damit die Gesundheitswirtschaft ein (wachsender) Wirtschaftsmotor Deutschlands bleibt, müssen klare und weitere Rahmenbedingungen für die Entwicklung der Digitalisierung geschaffen werden. Der deutsche Forschungs‐ und Produktionsstandort gewinnt auch innerhalb der EU zunehmend an Bedeutung. Wichtig ist deshalb die stetige Einbindung der Gesundheitswirtschaft als Innovationstreiber bei länderübergreifenden Projekten zur Digitalisierung der Gesundheitsversorgung wie dem European Health Data Space und GAIA‐X.

Um den Gesundheitsstandort Deutschland langfristig zukunftsfähig aufzustellen, sollte zudem ein Mechanismus etabliert werden, der die Digitalisierung sektorenübergreifend vergleichbar macht und den Akteuren des Gesundheitswesens noch nicht ausgeschöpfte Potenziale aufzeigt. Im klinischen Bereich ist die Messung und Zertifizierung des digitalen Reifegrads bereits bekannt und bringt reale Mehrwerte für Patient:innen und Krankenhausbetreiber hervor. Vergleichbare Modelle könnten auch in anderen Bereichen der Versorgung etabliert werden.

4. Datenbasiertes Gesundheitswesen für innovative Lösungen
Die Potenziale, die durch die Weiterentwicklung und Nutzung von Cloud‐Computing, von Machine Learning bzw. Künstlicher Intelligenz (KI), Telemedizin/‐monitoring und von weiteren innovativen Technologien realisiert werden können, sind massiv und stellen einen wichtigen Meilenstein auf dem Weg zu einer zukunftsorientierten, modernen und patientenzentrierten Versorgung dar.

Cloud Storage und Computing als dezentrale Speicher‐ und Verarbeitungslösung für sensible Gesundheitsdaten ermöglichen die direkte und kontrollierbare Nutzbarkeit relevanter Gesundheitsdaten und haben das Potenzial, verschiedene Institutionen, Einrichtungen und Anwender:innen effizient miteinander zu vernetzen. Hier können sowohl Synergien auf Bund‐, Länder‐ und kommunaler Ebene realisiert werden (z. B. durch die trägerübergreifende Nutzung von Cloud‐Lösungen im klinischen Bereich), als auch supranational durch die Vernetzung verschiedener Gesundheitssysteme und die Schaffung gemeinsamer Gesundheitsdatenräume. Durch die flächendeckende Nutzung von Cloud‐Infrastrukturen kann darüber hinaus das Datenschutz‐ und Datensicherheitsniveau bei den Institutionen professionalisiert und erhöht werden. Dies beinhaltet die Implementierung effizienter und kontrollierter treuhänderischer Modelle für Datennutzung. Zudem würden durch Skalierungseffekte deutliche Reduktionen von Kosten und ökologischen Fußabdrücken realisiert werden.

KI‐Anwendungen sind bereits heute in der Lage, in einem gegebenen Datensatz Muster, Marker und Besonderheiten effektiv und hocheffizient zu identifizieren. Ärzt:innen und Patient:innen kann so ein nützliches Tool unterstützendend bei Entscheidungen zu schweren mehrdeutigen und repetitiven Fällen zur Seite gestellt werden. Die Qualität von Diagnosen wird damit signifikant verbessert werden und die Patient:innenenversorgung auf ein höheres Qualitätslevel gehoben werden. KI wird dabei effizienter und präziser, je mehr Daten ihr zur Verfügung steht und je höher die Qualität jener Gesundheitsdaten ist. Gleichzeitig steigt damit die Breite der möglichen Anwendungsfälle.

Glücklicherweise nimmt das Volumen von Gesundheitsdaten stetig zu, woraus sich neben den Fragen zu deren Speicherung und Sicherung vor allem Potenziale bezüglich der Nutzbarkeit von Daten im Sinne einer zukunftsorientierten und sektorenübergreifenden Gesundheitsversorgung ergeben. Zeitgemäße Cloud‐basierte Lösungen erlauben eine umfassende, dezentrale und sichere Speicherung und Verarbeitung von qualitativ hochwertigen, bereinigten, anonymisierten oder pseudonymisierten Datensätzen als zuverlässige Basis für innovative Technologien wie KI. Um den Zugang zu ebensolchen Datensätzen auch für innovative Unternehmen der Gesundheitswirtschaft zu gewährleisten, muss endlich die Langzeitforderung der Industrie bezüglich des direkten Antragsrechts beim Nationalen Forschungsdatenzentrum umgesetzt werden.

Darüber hinaus sollten Patient:innen und Versicherte verstehen können, welche Mehrwerte aus der Nutzung ihrer Daten resultieren können. Produkte und Innovationen, die auf Basis der Nutzung von Gesundheitsdaten entwickelt wurden, könnten beispielsweise mit einer deutlichen Kennzeichnung versehen werden. Solche Kennzeichen können wesentlich dazu beitragen, die Akzeptanz zur Datennutzung auch bei den Eigentümern der Daten zu fördern. Ein öffentlich einsehbares Verzeichnis der auf der Nutzung von Gesundheitsdaten basierenden Projekte, Produkte und Innovationen könnte diesen Effekt weiter ergänzen.

5. Echte Vernetzung gelingt nur durch das Zusammenspiel und gemeinsame Verständnis derverschiedenen Akteure
Die COVID‐19‐Pandemie zeigt eindrucksvoll, welchen Beitrag digitale Lösungen im Gesundheitswesen leisten können, wie beispielsweise das DIVI‐Intensivregister oder der verstärkte Einsatz und die hohe Akzeptanz von Videosprechstunden. Gleichzeitig wird uns in so mancher Hinsicht schmerzhaft vor Augen geführt, wie groß der digitale Rückstand ist. Wir erkennen, dass z. B. nach über einem Jahr Pandemie häufig nicht immer verlässliche und kontinuierlich aktualisierte Daten über Inzidenzen zur Verfügung stehen, mit denen effektives Handeln geplant werden kann. Auch fehlt noch immer ein schneller, geregelter Zugang von innovativen digitalen Versorgungsanwendungen in die Versorgung, die diese besonders in dieser Zeit enorm verbessern könnten: z. B. Remote Patient Monitoring bei Covid‐19‐Patient:innen.

Eine Vielzahl von Ländern innerhalb und außerhalb Europas hat zu diesem Zweck Zielbilder für die digitale Transformation ihrer Gesundheitssysteme entworfen und auf dieser Basis sogenannte eHealth‐Strategien als Grundlage für zielgerichtete Maßnahmen geschaffen. So schreitet die Digitalisierung der Gesundheitssysteme schnell und erfolgreich voran, während das deutsche Gesundheitssystem in Erhebungen zum Digitalisierungsgrad hingegen schon vor der COVID‐19‐Pandemie und auch weiterhin regelmäßig schlecht abschneidet.

Zudem muss die übergreifende Zusammenarbeit innerhalb eines und zwischen verschiedenen Gesundheitssystemen sichergestellt werden. Hier nimmt die Etablierung von flächendeckender Interoperabilität eine zentrale Rolle ein und muss als Bestandteil des eHealth Zielbildes adressiert werden. Benötigt wird zur erfolgreichen Bewältigung dieser komplexen Herausforderung ein ganzheitliches Konzept, in welchem internationale Standards eins zu eins von allen Akteuren des Gesundheitswesens etabliert und verwendet werden.

Auch wenn sich in Deutschland in den vergangenen Jahren einiges getan hat, fehlt an vielen Stellen die zugrundeliegende Strategie, welche die Gesetzesvorhaben zur Digitalisierung des Gesundheitswesens unter Einbeziehung der industrielle Gesundheitswirtschaft zusammenführt. Die Akteure des deutschen Gesundheitswesens brauchen ein gemeinsames Verständnis der langfristigen Digitalisierungsstrategie. Deutschland braucht ein gemeinsam entwickeltes eHealth‐Zielbild, um das Gesundheitssystem langfristig finanziell zu sichern, die Versorgungsqualität weiter zu verbessern und den Standort Deutschland für die medizinische Forschung und industrielle Gesundheitswirtschaft dauerhaft wettbewerbsfähig und innovationsfreundlich zu halten.

Wir appellieren an die politischen Entscheidungsträger:innen die Ausarbeitung eines eHealth-Zielbilds unter Einbindung aller wesentlichen Akteure voranzutreiben, um eine zielgerichtete Digitalisierung des Gesundheitswesens umzusetzen. Das eHealth Zielbild sollte dabei mindestens die folgenden Aspekte umfassen:

  • Schaffung eines einheitlichen und zukunftsfähigen Gesetzesrahmens der deutschen Gesundheitsgesetzgebung.
  • Förderung der Digitalisierung des Gesundheitswesens durch neue Finanzierungsinitiativen und ‐programme.
  • Klares Bekenntnis zur transparenten und sicheren Nutzung von Gesundheitsdaten und den daraus resultierenden Möglichkeiten.
  • Erleichterte Möglichkeiten zur Einwilligung in die Nutzung von Gesundheitsdaten für wissenschaftliche Forschungszwecke durch Unternehmen aus der industriellen Gesundheitswirtschaft.
  • Förderung und Etablierung innovativer Technologien wie Telemedizin, Cloud‐Computing und Anwendungen Künstlicher Intelligenz für die Gesundheitsversorgung.
  • Etablierung von Initiativen zur Stärkung digitaler Kompetenzen bei allen Anwendergruppen des Gesundheitswesens.
  • Etablierung einer durchführbaren und zielgerichteten Roadmap zur regelmäßigen Weiterentwicklung der Telematikinfrastruktur unter Einbindung aller Akteure des Gesundheitswesens.
  • Einführung von sektorenübergreifenden Modellen zur Messung des digitalen Reifegrads im Gesundheitswesen.
  • Sicherstellung der Interoperabilität im Gesundheitswesen unter Beteiligung aller Akteure.

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